Mulhouse und das alte Mulhausen

Louis Levrault gehörte zu einem jüngeren Zweig der Strassburger Buchhändler-Drucker-Dynastie, die das « Maison Berger-Levrault » gründete. Von 1844 bis 1870 war er Steuereinnehmer in Obernai, ausserdem Korrespondent des « Ministère de l’Instruction publique » und Mitglied der « Société pour la conservation des monuments historiques d’Alsace ». Er veröffentlicht Bücher und zahlreiche Artikel über die Geschichte des Elsass, besonders in der « Revue d'Alsace ».

Diese Broschüre ist ein Sonderdruck aus einem Artikel, der in der « Revue d'Alsace », Bd. 1, S. 23-46, 1836 veröffentlicht wurde. Wie er in einer Mitteilung vom 28. Januar 1836 (?) angibt, will sich der Autor gegen die Vorwürfe des Brandstifters und Anarchisten verteidigen, eine erwähnenswerte Veröffentlichung des Artikels.

Zwei verschiedene Teile, "Mulhouse" (S. 1-12) und "Mulhausen" (S. 12-27).
 

Der erste Teil ist ein Pamphlet über das industrielle Mulhouse von 1835. Aus Strassburg kommend, einer Stadt, die von Handwerk und Dienstleistungen geprägt ist, entdeckt Louis Levrault die neue industrielle Zivilisation in einer ihrer vollständigsten Ausdrucksformen auf dem europäischen Kontinent. Er ist erstaunt darüber ! Er hat unmittelbar den Finger auf den wichtigen Widersprüchen (« Was ist schlimmer als der Zustand eines Arbeiters in den Laboratorien des Glücks ? »), wie zum Beispiel : die Bereicherung einer Minderheit auf Kosten der Verarmung der Mehrheit, die Vertiefung von Ungleichheiten. Er greift energisch den Liberalismus an, die angebliche Philanthropie derer, « die die Armen arbeiten lassen », den Wettbewerb, der zur « Ausbeutung des Menschen durch den Menschen » führt (ein entlehntes Ausdruck von Saint-Simon), die unwürdigen Wohnverhältnisse (« sagen Sie, sagen Sie, wenn Ihre Pferde nicht besser im Stall sind ... »), die Verderbnis der Sitten, und prangert schliesslich eine Lebenserwartung an, die um ein Viertel niedriger ist als der französische Durchschnitt, 25 Jahre gegenüber 33 Jahren. Ohne das Wort zu benutzen, entdeckt er den Pauperismus, der aus materieller Armut und körperlichem und moralischem Verfall besteht. Dieser Bericht, die übrigens von Louis-René Villermé ratifiziert wurde, der zur gleichen Zeit Mulhouse besuchte, wird auch von den heutigen Historikern bestätigt, die wissen, dass die 1830er Jahre die schlimmste für die Lage der Arbeiter waren. Aber wie Frédéric Guthmann hervorhebt, ist der Artikel auf einem Licht-Schatten-Kontrast aufgebaut, der der Rhetorik der Zeit entspricht, und Levrault ist durchsichtig, fähig zur Nuancierung und nicht reaktionär. Er beendete seine Ausführungen mit einer positiven Bemerkung und hob die Bemühungen der « Société industrielle de Mulhouse », einiger Industrieller und deren Ehefrauen und Töchter zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen hervor. Er stimmte zu, dass die Unglücke der Zeit eine Periode des Übergangs sein könnten, und schloss mit einer eher optimistischen prophetischen Zukunftsbild.

Der zweite Teil mobilisiert die Geschichte, um dem Pamphlet einen Sinn zu geben. Auf einer unscharfen Handlung - nur zwei Daten tauchen aus dieser epischen Erzählung auf, 1466 und 1515, d.h. zwei Bündnisse mit den Schweizern - veranschaulicht Levrault mit ausgewählten, erfundenen oder manchmal zutreffenden Stücken energisch den moralischen Fortschritt des Volkes von Mulhouse, das von Natur aus « aggressiv » und « streitsüchtig » war und kurz davor stand, dank der Ankunft Ludwigs XIV. und des französischen Einflusses « der wahren Zivilisation würdiger » zu werden (was im Jahre 1835 noch zu tun « ist » !). Levrault sucht in der Geschichte der Stadt eine Erklärung für die Gewalttätigkeit der Arbeiterschaft, die er dort vorfindet. Die Bewohner waren immer im Krieg miteinander (« Unruhen, Provokationen, Morde ») und mit allen Nachbarn (« sie waren allein gelassen und schienen diese Einsamkeit zu geniessen »). Schlimmer noch : die Haltung von « meuternden Schulkindern » und « aggressiven Städtern » stellt das « Elsass » in den Schatten (welches Elsass vor der französischen Provinz ?). Sie beschädigen die Ehre der Elsässer durch ihr Verhalten und ihr Bündnis mit den Fremden (vor allem mit den Schweizern). Frankreich hat das Wunder vollbracht, seine « mörderische Energie » in industrielle Dynamik umzuwandeln. Nur ein Held an der Spitze (3 Seiten) : Hermann Klee, der « elsässische Spartakus », der die Demokratie erfindet ; ein kleiner Landmann hat mit Adligen sich verbündet.

Mit welchem Material baut der Historiker Levrault diese Geschichte auf ? Kann man schon die « Fama », den Ruf der hartnäckigen und freiwilligen der Einwohner von Mulhouse seiner Zeit vermuten ? Der Autor zitiert zwei Quellen, zwei « protestantische Annalisten ». Dies sind zweifellos Mathieu Mieg (1816) und Mathias Graf (1819-1826), beide stark inspiriert von der zweiten Geschichte von Mulhouse im Stadtschreiber Petri von 1640 - dieses Opus befindet sich noch 1835 in einer Privatsammlung und ist daher unzugänglich. In den von Levrault erzählten Episoden finden wir viele Elemente von Petri, einschliesslich seiner Fabel über die Belagerung Karls des Kühnen, die durch die Überflutung der Fluss von Ill aufgehalten wird. Aber als guter Historiker weist unser Autor auf die Voreingenommenheit der Chronisten für die Reformisten in der Finninger-Affäre hin und er behauptet : « [Die Katholiken] waren nicht alle, wie die eifrigen Nachfahren und Historiker ihrer Sieger sie nennen, Verräter, Tyrannen und Feiglinge ».

Die Geschichtsdarstellung von Levrault bringt keine neuen Sichtweisen, wenn keine Fehler, aber ein kritischer Blick auf die Bestialität der Bewohner vor der Ankunft der Franzosen ; es bleibt ein Stück Mut in der industriellen und protestantischen Geschichtsschreibung der Stadt und bietet einen sehr glatten Blick auf alte Zeiten.

Schliesslich ist noch anzumerken : dieser Text ist eine separat gedruckte Tafel mit dem Titel « Vue de Mulhausen prise de la plateforme de la Société industrielle » vorangestellt, lithographiert von Simon Fils in Strassburg (der bis in die 1850er Jahre elegante Drucke zum « Nouveau quartier » und zum Hafen von Mulhouse herausgab, die auf Zeichnungen von J. Pedraglio beruhten), nach der Zeichnung eines Künstlers, dessen Name schwer zu entziffern ist (« T. M. »?). Möglicherweise Théodore Müller (1819-1879), der 1837 zu den schönen « Vues du Ban de la Roche et des environs », 1841 zu dem monumentalen « Panorama des Vosges et du chemin de fer de Strasbourg à Bâle » beigetragen hat (auf dessen vorletzter, Mulhouse gewidmeter Tafel das « Nouveau Quartier. Société industrielle » explizit zu sehen ist), herausgegeben von Emile Simon in Strassburg, und signierte eine Serie von Panorama-Ansichten von Strassburg von der Plattform des Münsters aus, noch mit Simon, der zu der Zeit, als er unsere « Vue de Mulhausen » druckte, bereits einer der grössten Drucker war, die sich auf die Kunst der Lithographie spezialisiert hatten.

Diese Lithographie ist wahrscheinlich vom Kupferstich, der einige Jahre zuvor veröffentlicht wurde und das gewidmete Kapitel über Mülhausen illustrierte : La France pittoresque. Département du Haut-Rhin, ci-devant Haute-Alsace, et République de Mulhausen von Abel Hugo (Paris: Impr. de Rignoux et Cie, 1833. Gravierte Bildtafel nach einer Zeichnung von François Joseph Wachsmuth (1772-1833), gebürtiger Strassburger Künstler, seit 1801 in Mulhouse ansässig, wo er Zeichnen und Malen lehrte.

Diese Illustration entspricht also dem eher günstigen « Klischee » von Mulhouse, wie es in den 1830er Jahren durch nationale Publikationen geographischer und statistischer Art verbreitet wurde (eine sehr ähnliche Sicht auf Mulhouse, findet sich noch im « Guide pittoresque du voyageur en France », ein Buch 1838 von Firmin-Didot in Paris herausgegeben wurde). Man kann sich wundern, dass man nicht das alte Mülhausen oder das industrielle Mulhouse gewählt hat, sondern das bürgerliche, zivilisierte und moderne Mulhouse des « Nouveau Quartier » - es ist wahr, ohnegleichen zu jener Zeit in Strassburg. Im Hintergrund rauchen vielleicht ein paar Fabrikschornsteine, aber die Realität der Arbeit in Fabriken, wie sie von L. Levraults Blick vom überhängenden Standpunkt dieses bürgerlichen Paares, das von der Plattform des Gebäudes der « Société industrielle » aus das Panorama und die - alles in allem relative - Belebtheit des « Nouveau Quartier » geniesst, wirkt recht unscharf und distanziert.

Abschliessend sei angemerkt, dass hier eine lithografierte Bildtafel einem Kupferstich vorgezogen wurde. Eine schlüssige Wahl angesichts der Stadt, in der auf Initiative von Godefroy Engelmann die erste lithografische Druckerei Frankreichs eröffnet wurde. Man wird sich daran erinnern, dass König Karl X., als er acht Jahre zuvor nach Mulhouse kam, um sich dort bejubeln zu lassen, unter anderem « Produkte der Industrie » und des technischen Fortschritts präsentiert bekam, die in dieser Stadt die neuesten lithografischen Druckverfahren entwickelten. Dies im selben Gebäude der (damals unvollendeten) Industriegesellschaft, dem Schaufenster einer Stadt, die selbst Sinnbild der wirtschaftlichen Moderne ist - einer Moderne, deren Schattenseiten unser Autor genau beleuchtet.

Autoren : Nicolas Stoskopf, Odile Kammerer, Michaël Guggenbuhl

Datum der Buchausgabe  : 1836

Aufbewahrungsort : Bibliothèque municipale de Mulhouse, Fonds A. Weiss : AW 1727

Bibliographie : Odile Zeller, NDBA, n° 24, p. 2329 ; Frédéric Guthmann, « Regards croisés sur la vie économique et sociale mulhousienne de 1830 à 1871 : Mulhouse vue d’ailleurs », Annuaire historique de Mulhouse, t. 27, 2016, p. 111- 142