Das « Exemplar » des Werkes von Heinrich Seuse

Eine mystische Autobiografie

Das Manuskript MS.2.929 der « Bibliothèque nationale et universitaire » versammelt in sich alle Merkmale eines besonders wertvollen Dokuments, das in einer Kulturerbe-Bibliothek wie der Bnu zu finden ist. Ihr Inhalt und ihre Geschichte sind besonders eng mit der intellektuellen Geschichte des Rheintals, mit der Geschichte Strassburgs und seiner Bibliotheken verknüpft. 

Die « Vie du bienheureux Henri Suso » bündelt sein Werk des Dominikanermönchs von Heinrich Seuse, oder Henricus Suso (ca. 1295-1366) in der latinisierten Form seines Namens. Neben der Darstellung seines mystischen Lebens ist sein Büchlein der ewigen Weisheit, gefolgt vom Büchlein der Wahrheit und dem Briefbüchlein, dargestellt. Der aus Konstanz gebürtige Seuse war eine der Hauptfiguren des späten Mittelalters, im Strom der rheinischen Mystik. Er stand Meister Eckhart (ca. 1260 - ca. 1328) nahe, den er in Strassburg begegnete, wahrscheinlich um 1320.

Besorgt um die getreue Überlieferung seines Werkes, liess Seuse 1365 mit Zustimmung seines Vorgesetzten Bartholomaeus den endgültigen Text abfassen. Wenn das Originalmanuskript in verloren wurde, ist die in der « Bibliothèque nationale et universitaire » aufbewahrte Kopie die älteste und somit die « authentische » Kopie, die derzeit aufbewahrt wird. 

Somit bildet es das « Exemplar », das wiederum für späteren Kopien benutzt werden kann, die alle ab dem 15. Jahrhundert durchgeführt wurden (es bestehen bis heute zwölf vollständige Kopien).

Der von einem einzigen Verfasser in alemannischer Mundart verfasste Text ist auf Pergament gedruckt und umfassend bebildert. Es wird von einem wichtigen ikonografischen Angebot begleitet, das zum aussergewöhnlichen Wert des Dokuments beiträgt : Zwölf Zeichnungen, vermutlich vom Original reproduziert, zeigen den seligen Seuse unter dem Titel « Diener ».

Dieses Manuskript, das wahrscheinlich um 1365 in Strassburg angefertigt wurde, gelangte dann in die Sammlungen einer der berühmtesten mittelalterlichen Bibliotheken der Stadt, der 1371 von Rulman Merswin gegründeten Komturei Saint-Jean der « Maison Ȋsle Verte ». Nach der Revolution fand er sich in der Bibliothek der Stadt Strassburg Temple Neuf wieder.

Es war das einzige Dokument unter den 300 000 dort aufbewahrten, das der Zerstörung von dem Feuer in der Nacht vom 24. auf den 25. August 1870 entging. Sie war zuvor zum wissenschaftlichen Forschen von dem Philologen Franz Pfeiffer (1815-1868) nach Berlin gebracht worden. Nach dem Krieg von 1870 gelangte das Manuskript in die Sammlungen der Königlichen Bibliothek zu Berlin, die es 1907 an die Kaiserliche Universitäts- und Landesbibliothek (spätere « Bibliothèque nationale et universitaire ») verkaufte.

 

Autor : Daniel Bornemann (Veröffentlicht in : Trésors des Bibliothèques et Archives d’Alsace, unter der wissenschaftlichen Leitung von Rémy Casin, Jean-Luc Eichenlaub, Bernadette Litschgi, Claude Lorentz, Laurent Naas et Mathilde Reumaux, Éditions La Nuée Bleue / Éditions du Quotidien, in Co-Publikation mit dem Verein « Coopération régionale pour la documentation et l’information en Alsace », Strasbourg, 2017)

Bibliothèque nationale et universitaire, MS.2.929
Vie du bienheureux Henri Suso, Pergament, 160 f.