Zwei junge Elsässer als Pioniere der organischen Chemie

Die beiden wichtigen Bände von Charles Gerhardt « Précis de chimie organique » und ihre deutsche Übersetzung « Grundriss der organischen Chemie » von Adolphe Wurtz erschienen fast gleichzeitig in den Jahren 1844 und 1845, und zwar für die französische Version im Verlag Fortin, Masson et Compagnie in Paris und für die deutsche Version bei Schmidt und Grucker in Strassburg. Die beiden Männer sind Freunde aus dem Elsass, im Abstand von einem Jahr geboren, beide begeistert von dieser Chemie, die noch neu ist und deren Prinzipien noch geklärt und systematisiert werden müssen. Zweifellos wurde diese Übersetzung im ständigen Austausch zwischen den beiden Männern angefertigt. Zum Durchblättern dieses Werkes, der Historiker der Chemie kann die Fortschritte dieser Disziplin seit der Veröffentlichung von Lavoisiers « Traité élémentaire de chimie » im Jahr 1789 nachzeichnen, die Geburtsstunde der modernen Chemie, die sich mit den chemischen Elementen beschäftigt, wie wir sie heute noch verstehen. Er wird zudem von der Modernität der Gleichungen überrascht sein, die Mendelejews Entdeckung des Periodenssystems der chemischen Eigenschaften der Elemente kaum ein Vierteljahrhundert vorauszugehen scheinen. Dies sind drei wichtige Meilensteine der Chemie. Die Einschränkung des Bereichs der « Précis » von Gerhardt allein spricht nur über den Fortschritt einer noch jungen Fachwissenschaft : wenn sich die Chemie mit 56 Elementen beschäftigt (damals, heute die Anzahl der Elementen ist verdoppelt), dann konzentriert sich die organische Chemie auf die Beziehungen zwischen den sechs grundlegenden Elementen, die allen Lebewesen zugrunde liegen, dem berühmten CHNOPS (Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Sauerstoff, Phosphor und Schwefel). Gerhardt vergisst auch nicht die gelegentliche Rolle einiger anderer Elemente wie Metalle ... métaux …

Die Kritik von Gehrardt seines berühmten Lehrers Justus Liebig

Es ist ein Werk von aussergewöhnlicher Strenge, Dichtheit, Modernität und Beherrschung. Um nicht zu verkennen, begnügt sich Gerhardt nicht mit einer einfachen Beschreibung, sondern vertritt neue Ansichten, indem er insbesondere die Theorie der Radikale und das elektrochemische Prinzip kritisiert, die bis dahin von seinem berühmten Meister Justus Liebig vertreten wurden. Seine Kritik wird mit Feingefühl und Respekt geäussert. Er systematisierte die atomistische Notation und führte den grundlegenden Begriff der Klassifikation durch die Homologen Reihen ein, der später von vielen seiner ehemaligen Gegner übernommen wurde (und noch nicht vollständig, was wir damals kennen : die Klassifikation durch chemische Funktion, die dreissig Jahre später von Marcellin Berthelot eingeführt wurde). Es fehlt auch nicht an philosophischen Betrachtungen, die sich heute kein organischen Chemiker mehr erlauben würde : das Leben ist ein Gleichgewicht zwischen vitalen und chemischen Kräften und der Tod das Ergebnis eines Unfalls, der zu einem Ungleichgewicht und dem endgültigen Triumph der chemischen Kräfte in der Verwesung und deren Folgeerscheinungen führt.

Als deutsche und französische organische Chemiker aus einem gemeinsamen Handbuch zurückgriffen

Gerhardt verschwendete keine Zeit : er hatte gerade den Titel als « Maître en Pharmacie » an der « École supérieure de pharmacie » in Strassburg erlangt, im Alter von 25 Jahren, er veröffentlichte sein Buch ; nachher Professor an der « Faculté des Sciences » in Montpellier. 

Sein theoretisches Wissen wurde durch seine direkte Erfahrung am Labortisch bereichert (wir erinnern uns, dass er 1853 die erste Synthese der Acetylsalicylsäure, besser bekannt unter dem Namen Aspirin, durchführte), aber auch durch die neuen Erkenntnisse, die er durch Korrespondenz und akademische Lektüre erwarb, so dass er es für unerlässlich hielt, sein « Précis » zu bereichern und zu aktualisieren, um es zu einer echten Abhandlung zu machen, dem Werk eines Lebens.

Das Lebenswerk ... Auf den Weg der ersten modernen Abhandlung über die organischen Chemie

Das Buch « Traité de chimie organique » von Charles Gerhardt erschien von 1853 bis 1857 in vier umfangreichen Bänden fast zeitgleich auf Französisch und Deutsch mit dem Titel « Lehrbuch der organischen Chemie » (diesmal vom Autor selbst übersetzt !). Wir bedauern, dass der Begriff « Traité » viel weniger aussagekräftig ist als die deutschen Entsprechung « Lehrbuch ».

(Beide Fassungen sind auf Numistral verfügbar).

Diese Abhandlung wird in die Geschichte der organischen Chemie als die erste moderne Abhandlung zu diesem Thema eingehen. Trotz seiner schnellen Entwicklung hat das « Traité de chimie organique » von Charles Gerhardt kein gleichwertiges Gegenstück im französischsprachigen Welt, aber vor den fast zwanzig Jahre später veröffentlichten Werken von Marcellin Berthelot, von Béhal und Valeur (1910-1911) und dann von Victor Grignard im Jahr 1935. So schöpften die organischen Chemiker auf beiden Seiten des Rheins mehr als ein Vierteljahrhundert lang aus denselben pädagogischen Quellen : zuerst aus dem « Grundriss » und dann aus dem « Lehrbuch » oder « traité ».

Im Jahr 1855 nahm Charles Gerhardt eine Stelle als Professor für Chemie an der « Ecole de Pharmacie et à la faculté de chimie » in Strassburg an und kehrte genau im Moment in seine elsässische Heimat zurück, als sein umfangreiches Werk vollendet war ; im folgenden Jahr, er starb zwei Tage vor seinem vierzigsten Geburtstag.

Um mehr über Charles Gerhardt zu erfahren, klicken Sie auf den Link Charles Gerhardt: sein Leben, sein Werk, seine Korrespondenz 1816-1856. Jeder kann die Begeisterung nachvollziehen, die ihn während seiner Arbeit angetrieben hat.
 

Autor : Georges Gressot, Service des Bibliothèques de l’Université de Strasbourg